Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Mahn‑ und Gedenkstätte Ravensbrück

Pietà

Pietà im ersten polnischen Gedenkraum 1959, MGR, Foto Nr. 5804

Pietà, 1959
Granit, Zement, Eisensägespäne, 118,0 x 90 x 70cm;

Foto: Pietà im ersten polnischen Gedenkraum im Lagermuseum ab 1959, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Foto Nr. 5804

Die Plastik ist als Auftragsarbeit für den ersten polnischen Gedenkraum im ehemaligen Zellenbau entstanden, der 1959 eröffnet wurde. Dort stand die Arbeit vor einer Zellenwand, auf der Namen der im KZ erschossenen polnischen Häftlinge in Schreibschrift angebracht waren. Im Zuge der Umgestaltung des Gedenkraumes in den 1980er Jahren wurde die Pietà versetzt und ist seit 2015 in der ehemaligen Textilfabrik zu sehen.

Der ursprüngliche Ausstellungskontext legt es nahe, das Loch über dem Herzen der aufrecht sitzenden Figur als Schusswunde zu deuten und die beiden Figuren als Frauen zu identifizieren. Hinweise auf die Geschlechtszugehörigkeit lassen sich aus der Formensprache jedoch nicht ableiten. Soll die ausgehöhlte Form der Figuren den erlittenen Hunger zeigen, der den Frauen ihre weibliche Physiognomie nahm? Soll die Plastik explizit auch männliche Häftlinge einschließen, die in einem gesonderten Bereich seit April 1941 im KZ Ravensbrück interniert worden waren? Kann die dargestellte Geschlechtslosigkeit als Symbol für die Identitätslosigkeit, die viele Häftlinge im Lager erlebten, verstanden werden? 

Die verzerrten Proportionen mit stark gestreckten Hälsen und überlangen Armen, das dunkle, von Rissen durchzogene Material, die kaum definierten Gesichter und die in sich geschlossene Komposition veranschaulichen Schmerz und Trauer. Durch die bewusste Anknüpfung an das ikonografische Thema der Beweinung Christi nimmt die Plastik gleichzeitig Bezug auf eine mögliche Andachtsform. Pociłowska zieht hier explizit Parallelen zwischen der Lagererfahrung und der Passion Christi und nimmt Glaubenspraktiken christlicher Häftlinge, zu denen viele polnische Frauen gehörten, auf. Sowohl mit der trauernden Maria als auch mit dem am Ende seiner Leidenserfahrung gestorbenen Christus konnten sich Christinnen identifizieren.

Der Plastik ist eine Sockelinschrift beigefügt: „Jeśli echo ich głosów zamilknie zginiemy“ (dt.: „Wenn das Echo ihrer Stimmen verstummt, werden wir vergehen“). Die Künstlerin spricht die Relevanz des Gedenkens an und fordert somit die Betrachtenden auf an ihm zu partizipieren. Wie steht der Aufruf der Inschrift zur künstlerischen Ausarbeitung der Figurengruppe, bei der Pociłowska auf die Darstellung von Mündern verzichtet? Sind die Figuren stimmenlos (geworden)? Die Funktion der Plastik als Mahnmal im Rahmen der Gestaltung des polnischen Gedenkraumes wird hier offensichtlich.

Der Kontrast zu der zeitgleich für die Gedenkstätte geschaffenen Skulptur Tragende von Will Lammert ist deutlich. Dessen Figurengruppe, auch bezeichnet als Pietà von Ravensbrück, befindet sich auf einer hohen Steele auf dem Gedenkareal am See. Trotz der schweren Last, welche die tragende Figur buchstäblich in den Händen hält, vermittelt die vorwärtsschreitende Fußstellung und der in die Ferne gerichtete Blick Heroismus und Zukunftsgewandtheit. Hier werden zwei unterschiedliche Ansätze des Erinnerns und Gedenkens Ende der 1950er Jahre sichtbar.

Karolin Wiegers, Studentin der Kunst- und Bildgeschichte