Gesichter aus der Vergangenheit – Twarze z prześłosci
1974, lasierte Keramik, 86 x 70 x 45 cm
Die Plastik Twarze z przeszlosci löste bei uns Diskussionen über Praktiken des Erinnerns, über Zeitlichkeit und über die Rolle und Funktion von Kunst im Zusammenhang mit Gewalt(erfahrung) aus. Im Folgenden sprechen wir über unsere Assoziationen und Überlegungen und bieten einige Interpretationszugänge an.
OBJEKTBESCHREIBUNG
M: Als erstes lässt sich ein menschliches Gesichts erkennen, auf dem Kopf könnte ein Helm sitzen. Um das Gesicht herum zieht sich eine Struktur, die organisch wirkt und aus der sich das Gesicht entweder herausdrückt oder in das es hineingeschrieben wird. Das Gesicht ist wie die ganze Plastik leicht zur Seite geneigt. Durch die sich nach unten hin verjüngende Form wirkt die Arbeit wie ein Torso, wie eine Büste. Und damit ist auch schon die Verbindung zu Erinnerungs- und Gedenkkultur gegeben, denn Büsten sind ja Teil von Erinnern und Gedenken, insofern sie in bleibender Form die Wertschätzung für jemanden ausdrücken.
F: Bei mir kam die Assoziation zu einem Grabstein auf.
MATERIALITÄT
M: Die Oberflächenstruktur ist kantig, rau, zerfurcht, aufgeworfen, aber auch zerdrückt oder verschmiert. Es gibt Bereiche, die durch den Faltenwurf komplett schwarz wirken. Es erinnert an Erde, Ton, Holz, Matsch – also an Elemente aus der Natur, an organisch gewachsene Strukturen.
ZWEI DEUTUNGEN/INTERPRETATIONEN
L: Es gibt zwei sehr unterschiedliche Interpretationen der Arbeit: Eine stammt von Pociłowska selbst: Danach hätte die Künstlerin hier den Tod eines Freundes verarbeitet, der bei einem Autounfall gestorben ist.
F: Die andere Deutung sieht hier die Darstellung eines Soldaten. Über die Assoziation zu einem Helm haben wir ja bereits gesprochen. Bei dieser Lesart stellt sich mir die Frage, inwiefern die Plastik eine Aussage gegen Krieg generell enthält. Pociłowska war ja selbst vor ihrer Inhaftierung und Deportation im Widerstand tätig und hat diesen Widerstand auch in Ravensbrück weitergeführt.
M: Es ist eben die Stärke der Arbeit, dass sie so unterschiedliche Zugänge zulässt.
ERINNERUNG UND GEDENKEN
F: Beide Deutungen thematisieren Fragen von Erinnerung. Pociłowskas eigene Aussage bezieht sich auf ein persönliches Erinnern, ein persönliches Trauern, das sie künstlerisch verarbeitet hat. In der zweiten Lesart rückt das politische Gedenken, vielleicht sogar an bestimmte Widerstandsgruppen, in den Vordergrund.
L: Ich finde die Anti-Kriegs-Botschaft nicht so eindeutig. Für mich ist es nicht so klar, welcher Soldat hier dargestellt ist. Ein abstrakter Soldat im allgemeinen Sinn? Oder bezieht sich Pociłowska ganz eindeutig auf die eigene Erfahrung und sie zeigt einen deutschen Soldaten? Dann würde er als Symbol für die Täter stehen. Oder ist es tatsächlich eine Person aus dem Befreiungskontext? Ich sehe hier sehr viele offene Fragen.
F: In diesem Zusammenhang interessiert mich die Darstellung des Auges: Wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass das linke Auge der Figur fehlt. Wurde es herausgerissen? Wer blickt uns eigentlich an? Werden wir als betrachtende Personen überhaupt angeschaut, weil das eine Auge ja fehlt? Oder liegt die Kraft der Plastik darin, dass wir als Betrachter*innen damit konfrontiert werden, dass wir betrachten und dadurch schon aufgezeigt wird, dass nicht zurückgeschaut werden kann? Ich finde diese Frage, was es bedeutet, jemanden anzuschauen, der / die nicht aktiv zurückschauen kann, total spannend. Gerade im Kontext von Gedenken und dem Bezug zu einer persönlichen oder historischen Vergangenheit und an diesem geschichtsträchtigen und gewaltvollen Ort.
L: Hier erscheint mir der Titel noch einmal wichtig zu werden: „Gesichter aus der Vergangenheit“. Welche Vergangenheit meint Pociłowska? Welche Gesichter und wie ist der Bezug sowohl zwischen der Künstlerin und dem Objekt als auch zwischen den Betrachter*innen und der Vergangenheit zu bestimmen?
F: Ein Zitat von Edna Brocke passt hier sehr gut: „Die einen gedenken ihrer Toten, um der Toten willen, aber vor allem in dem Wissen um die Einheit von Geschichte und Vergangenheit, die anderen gedenken des Geschehens, weniger der Menschen, um einer besseren Zukunft willen“. Genau diese beiden Facetten sind in der Figur angelegt.
ÖFFENTLICHES VS. PRIVATES GEDENKEN
M: Und auf der anderen Seite ist ja auch ein öffentliches Gedenken oder ein Gedenken an Krieg immer auch ein politisches. Hierzu passt die Darstellungsform der Büste. Denkmäler arbeiten ja oft mit Einzelbildern von Personen, um aber einem Kollektiv zu gedenken. Die Einzelperson steht stellvertretend für viele, wird dadurch in gewisser Weise unsichtbar. Singular und Plural werden vereint und in Bezug auf die Skulptur könnte man also vielleicht sagen, dass sie sowohl ein Gesicht als auch Gesichter aus der Vergangenheit zusammenführt.
F: Und diese Zweideutigkeit ist im Titel der Arbeit wiederum angelegt, denn es sind Gesichter aus der Vergangenheit, in der Pluralform.
POCILOWSKA ALS ÜBERLEBENDE/KÜNSTLERIN
L: Ich sehe diese Doppelebene auch. Und was bedeutet es, wenn die Arbeit hier in Ravensbrück gezeigt wird? Wem gedenken wir mit dieser Ausstellung? Gedenken wir Pociłowska als Überlebende oder als Künstlerin, oder beides? Steht sie für eine Gruppe? Wenn ja, für welche? Und wie kann ihre Singularität als Person und Künstlerin beibehalten werden, wenn man trotzdem auch sagt, dass sie etwas repräsentiert, das über sie hinausgeht.
VIELSCHICHTIGKEIT
L: Ja, genau. Es drängt sich der Begriff der Vielschichtigkeit auf. Also sowohl ganz bildlich an der Skulptur mit diesen Schlieren, mit dieser Form, die irgendetwas von Schichten hat […]
M: Es könnten Gesteinsschichten sein, wie von einem Fels, die sich über Jahre/ Jahrtausende angelagert haben -
L: […] Genau: Ablagerungen, Schichten. Also eine Vielschichtigkeit der Deutungen, und auch des Erinnerns und des Vergessens. Gerade ist mir nochmals aufgefallen, dass es zwischen den Schichten tiefe Löcher gibt, die sehr dunkel aussehen, in die man gar nicht hineingucken kann. Das könnte ein Symbol dafür sein, dass die Vergangenheit nicht komplett zugänglich ist, dass es auch Abgründe gibt, an die man nicht herankommt, in die man nicht hineinblicken kann.
F: Es gibt neben den Löchern auch Spuren. Vielleicht sind die Gesteinsschichten oder Schlieren eher Spuren – Spuren im Matsch, Reifenspuren im Sand? Diese Lesart schlägt nochmals eine Brücke zu der Interpretation des Auto-Unfalls. Aber auch Erinnerungen funktionieren über Spuren. Und da sehe ich für uns als Betrachter*innen die Frage: Welchen Spuren, wem und wie folgen wir denn? Und wohin können wir vielleicht dann auch nicht folgen?
L: Ich muss gerade daran denken, dass es nach einem anderen Material aussieht, als es ist. Es wirkt, als wäre es aus Holz, eine Rinde beispielsweise. Diese erdigen Farben und diese Oberfläche erinnern an Gewachsenes. Es scheint, als wäre die Arbeit aus sich heraus von selbst entstanden. Aber es ist glasierte Keramik, die in einem ganz gezielten, künstlerischen Schaffensprozess erarbeitet wurde. Diese Frage nach dem Herstellungsprozess finde ich im Zusammenhang mit dem Erinnern spannend: Erinnerungen sind auch nicht nur gewachsen, sondern Erinnerung ist ein aktiver Prozess, ebenso wie das Vergessen.
Marie Holthaus, Felicitas Pfuhl und Loui Schlecht, Studierende der Genderstudies